„Aufbruch in die Utopie: Für die Ewigkeit ist gar nichts.“

Es gibt Menschen, die verschwinden nie ganz, auch wenn ihre Bücher vergriffen, ihre einstigen Seminarräume leer und ihre Namen aus dem Betrieb hinausge(t)rieben wurden. Wolfgang Heise ist einer von jenen, deren Spuren weitergehen, selbst dort, wo sie über Jahrzehnte zugeschüttet wurden: Philosoph, Ästhetiker mit sozialistischem Rückgrat, Denkartist im Maschinenraum der DDR. 1925 in Berlin geboren, als Sohn einer jüdischen Mutter verfolgt, überlebte er ein Lager der Organisation Todt, entkam, wurde 1963 in der jungen DDR früh Professor für „Geschichte der Philosophie“ – und stolperte immer wieder über dieselbe Schwelle: Haltung. Wenn es ernst wurde, hat Heise auf seine Art widersprochen, leise, unaufgeregt, aber stets aufrichtig. Und dafür bezahlte er: erst mit seinem Prorektor-Posten. Dann mit seinem Lehrstuhl. Aber nicht mit seinem Kopf: Die Gedanken sind frei.

Er bekam Unterstützung: Erwin Pracht und Dietrich Mühlberg holten ihn 1968 an das „Institut für Ästhetik“, dort wurde er 1972 auf den Lehrstuhl „Geschichte der Ästhetik“ berufen – und wurde erst richtig bekannt: Der Schauspieler Hermann Beyer schwänzte Theaterproben für Heises vollbesetzte Vorlesungen an der HU, die französische Historikerin Sonia Combe nannte ihn den „Foucault von Ost-Berlin“, Heiner Müller bezeichnete ihn als den einzigen DDR-Philosophen, der es nicht verdient hätte, in den „Inszenierungen des Vergessens“ unterzugehen. Und doch: Er ist fast verschwunden. In Fußnoten, in Archiven, im Nebel der Neunziger. Jetzt, rund um seinen hundertsten Geburtstag, taucht er wieder auf. Hartnäckig, aktuell, unbequem.

Heises Denken glich einem Dauergespräch zwischen Geschichte, Kunst und den offenen Wunden der eigenen Gegenwart. Er schrieb über Heine, Goethe, Hölderlin und viele mehr wie jemand, der sie nicht verehrte, sondern befragte. Er bürstete Klassik gegen den Strich, um dem Heute die Falten aus dem Gesicht zu ziehen. Seine „Widerspruchsästhetik“ suchte nach der „Wirklichkeit des Möglichen“, nach den Funken zwischen Utopie und Empirie, zwischen Bild und Welt, nach dem „Bild der Welt“ in der Kunst. Und ja, seine Texte sind anspruchsvoll. Ohne Historisierung bleiben sie manchmal wie alte Signaturen: rätselhaft. Aber genau das macht sie brisant für ein Publikum, das sich wieder fragt, was Denken eigentlich darf, soll, muss.

Heises Denken war nie nur Theorie, sondern Material – Stoff, der sich in Köpfe, Probenräume und Schreibmaschinen fraß. Viele Künstler der DDR fanden bei ihm das, was der Kulturbetrieb nicht liefern konnte: Ermutigung zum Zweifel, intellektuelle Unruhe, einen Blick, der im Widerspruch das eigentlich Lebendige sah. Und so lernte man bei Wolfgang Heise nicht, wie Kunst aussehen soll, sondern warum sie widersprechen muss, wenn sie lebendig und relevant sein will. Aus seinen Seminaren kamen keine Musterstudenten, sondern Menschen, die sich nicht mit den vorgegebenen Linien zufriedengaben. Seine Ästhetik wurde zur Werkbank für Schriftsteller:innen wie Christa Wolf, Regisseure wie Benno Besson, Dramatiker wie Heiner Müller, Musiker wie Hans-Eckhardt Wenzel, aber auch für bildende Künstler:innen wie Nuria Quevedo, für Schauspieler:innen wie Corinna Harfouch und für Theaterschaffende wie Jürgen Kuttner – und für viele andere, die begriffen, dass ästhetisches Denken ein Ort sein kann, an dem Haltung nicht verordnet, sondern erarbeitet wird. Wolfgang Heise hat seine Mitmenschen nicht beeinflusst: Er hat sie sich selbst in Bewegung setzen lassen.

Diese Matinee ist kein Symposium. Kein Archivfegen. Kein Nostalgiekabinett.
Sie ist ein Memento an Stimmen, Tönen, Erinnerungen, Einsätzen.

Mit:
Bolschewistische Kurkapelle Schwarz Rot, Wenzel, Wolfgang Herzberg, Corinna Harfouch, Volker Braun, Dietrich Mühlberg, Shortie (Steffen Schumann), Hermann Beyer,
Adama Ulrich, Steffen Mensching, Christian Grashof, Jürgen Kuttner, Lukas Zittlau, Anne Gräfe, Manfred Karge und Wolfgang Thierse.

Eine Matinee für offene Fragen, streitbare Gedanken und die Kunst, die sich nicht einschüchtern lässt.
Ein Raum für einen Philosophen, der der Ewigkeit misstraute und trotzdem Spuren hinterließ.
Ein Raum für Wolfgang Heise.

Für die Ewigkeit ist gar nichts.
Für diesen Moment aber ziemlich viel.

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