Futures East
Mit: Naika Foroutan, Klaus Wolfram, Lena Brasch, Andrej Holm, Boris Buden, Luise Meier, Zoran Terzic, Leonie Jenning, Sebastian Kaiser u. v. a.
2020 trat die Politik- und Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan mit der These an die Öffentlichkeit, dass sich ähnlich den post-migrantischen Communities auch Nachwendekinder ostdeutscher Eltern mit der DDR in irgendeiner Art identifizieren könnten. Was damals theoretischer Verdacht war, löst sich mittlerweile als empirische Realität ein. Deutsche Post-Ost-Positionen bewegen sich gegenwärtig zwischen Ostalgie und Überidentifizierung (von der Simson-Bastelei zum rechten Slogan: „Ost! Ost! Ostdeutschland!“), aber sie führen auch zur konstruktiven Auseinandersetzung und Kapitalismuskritik. Der Osten für die junge Generation: auch eine Projektionsfläche des systemischen Anderen? Unter dem Slogan Futures East fächert die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz im ganzen Haus des Theaters verschiedenste deutsche und internationale, künstlerische und diskursive, Vor- und Nachwende Post-Ost Positionen in folgenden Themenkomplexen auf:
DAS GEFÜHL OST
In einem Gespräch mit Naika Foroutan und an Runden Tischen in den Foyers des Theaters tritt die Generation der Nachwendegeborenen (kuratiert von Lena Brasch und Leonie Jenning) in die multiperspektivische Auseinandersetzung verschiedener Generationen in Bezug auf die historische Kontingenz der DDR. Was ist dieses „Ost“, auf das sich Menschen ohne DDR-Erfahrung beziehen? Was ist es im internationalen Kontext (Erweiterung Ost-Europa, Balkan, Asien, Indien, China), was ist es im zukünftigen Sinne? Wird der Palast der Republik wiedererrichtet, bevor der Führerbunker ausgehoben wird, oder erst danach?
LIEBE DEINEN WESTEN! – Stockholm Syndrom
Viele „Nachwendekinder“ (J. Nichelmann) erleben gerade in Berlin eine wirtschaftliche Benachteiligung, die sich aus der Wendezeit ableiten lässt. Denn ostdeutsche Familien begannen den Start im wiedervereinigten Deutschland ohne Vermögensnetzwerke oder Wohneigentum; die Schere West-Ost wurde an die folgende Generation weitergegeben. Andrej Holm, Stadtsoziologe, der das Wort Gentrifizierung einst in den deutschen Diskurs einbrachte, erklärt dies anhand des Einigungsvertrages, der u.a. die Privatisierung hunderttausender kommunaler Wohnungen seit 1990 festschrieb. Berlin und das Grundrecht auf Wohnen wurden seither in einen Renditemarkt umgewandelt. Unter der akuten Wohnungsnot leiden alle. Die Konsequenzen betreffen jedoch junge Ostdeutsche, aber auch Gleichaltrige aus einkommensschwachen, westdeutschen oder post-migrantischen Familien besonders. Statt Opferkonkurrenz zu befeuern, fragen wir: Welche Allianzen sind möglich?
DOPPEL-DISSIDENZ: Neuentwurf des postsozialistischen Zeitstrahls
Keine Vergangenheit scheint heute umkämpfter als die Vergangenheit des politischen Ostens. Gerade angesichts der überproportional hohen Wahlerfolge der AfD in den neuen Bundesländern stehen sich zwei historische Erklärungsversuche gegenüber: Machen die einen den „Spitzelsozialismus“ für mangelnde Demokratieakzeptanz verantwortlich, sehen die anderen die treuhänderische Abwicklung eines ganzen Landes, seiner Menschen und Biographien als ursächlich für das wütende und „beschämende“ Wahlverhalten im Osten. Die Nachwendegeneration beschäftigt sich dabei zunehmend mit einer nicht selbst erlebten, widersprüchlichen Geschichte, die keine eindeutige Positionierung verlangt oder zulässt: Eine Absage an die DDR kann neben der Kritik an den sozialen, ökonomischen oder auch kulturellen Folgen der Wiedervereinigung stehen.
Die Volksbühne versucht hier, die Perspektive einer „Doppeldissidenz’“ einzunehmen. Wenige verkörpern diese wie Klaus Wolfram – Philosoph und Journalist, zu DDR-Zeiten mit Berufsverbot belegt und 1989 an den Runden Tischen und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beteiligt. Mit ihm versuchen wir, einen anderen Zeitstrahl der Wende zu entwerfen und so die emanzipatorischen Impulse aus der Zeit freizulegen, als Basisdemokratie mit einem ökologischen und feministischen Aufbruch gelebt wurde. Einen Augenblick lang war es da, das andere Deutschland: der Osten als Generator progressiver Gesellschaftsmodelle und Utopien.
NON_ALIGNED: Zur Internationalisierung der Zukunft
Von der Doppel-Dissidenz ist es nur ein Schritt zur universellen oder multifokalen Dissidenz. Denn keiner weiß, wie es weitergeht. Der Markenkern des Westens, das Wirtschaftswachstum: stagniert. Die transatlantische strategische Partnerschaft: zerbröckelt. Der innere Frieden: wackelt. Technologie und Klimawandel bringen Ungewissheit.
Futures East versucht in dieser Situation, den Osten als Impulsgeber für das Denken einer anderen Gesellschaft stark zu machen. Um dabei aus der deutschen Erfahrung Sinn zu machen, ist eine „entdeutschte“ und womöglich „post-europäische” Perspektive (Yuk Hui) von Nöten. Das bedeutet auch die Einbeziehung migrantisch-internationaler Erfahrungen. So wird der Blick nicht nur frei für das Window of Opportunity im Herbst 1989, sondern auch für den Nationaltaumel, den die Wende mit sich brachte und damit eine Kaskade europäischer Nationalismen auslöste. Ein Blick über den Tellerrand zeigt transnationale und transreligiöse Trajektorien, verbunden mit Formen des selbstverwalteten Arbeitens (siehe z.B. Jugoslawien), wie sie heutzutage oft im Kunstkontext reanimiert werden (siehe documenta fifteen). Oder auf Makroebene, die Bewegung der Blockfreien Staaten, die eine andere Solidarität nicht zuletzt zwischen Nord und Süd praktizierten. Auf diesen geschichtlichen, biografischen und geografischen Achsen versuchen wir im Abschlusspanel, die Futures East ausfindig zu machen.
Der Thementag findet ab 18 Uhr in den Salons und Foyers der Volksbühne statt, ab 20 Uhr auch im Großen Haus. Das genaue Programm wird zeitnah veröffentlicht. Mit einem Einheitsticket können sämtliche Veranstaltungen und Diskussionen besucht werden; eine Platzgarantie, sollten die Salons voll sein, gibt es nicht.
- 18:00Große Bühne
Futures East
Ein Themenabend im ganzen Haus der Volksbühne zu Post-Ost-Stimmen | Mit: Naika Foroutan, Klaus Wolfram, Lena Brasch, Andrej Holm u.v.a.